Eine Auswahl
So ein wunderschöner Schmetterling, riefen alle. Wie leicht und schillernd er mit den Winden fliegt! Bewundernd folgten ihm die Blicke und übermütig schlug er mit den samtseidenen Flügeln.
Höher und höher gaukelte er. Trank sorglos aus den Blütenherzen, spielte mit den Hummeln, flunkerte mit den Rosenkäfern, liebte die warme Sommerluft.
Ach, riefen die Menschen, so einen müssten wir im Hause haben. Wir sind nicht so, wir tragen schwere Lasten und möchten doch ganz anders sein. Der Schmetterling wird uns erfreuen, wenn jede Freude uns verlassen hat. Und sie folgten ihm mit sehnsuchtsvollen Blicken.
Als den Menschen ihr Kummer zu groß wurde, fingen sie den Schmetterling und sperrten ihn in ein kleines Glas. Sie wollten sich an seiner Schönheit laben, seine Leichtigkeit sollte ihre Schmerzen vergessen machen. Als der Deckel sich über ihm schloss, flatterte er verzweifelt mit seinen glänzenden Flügeln, bis ihre Farbe abstaubte und sie blass und trocken wurden. Die Kraft verließ ihn. Die Menschen drehten das Glas, sie klopften mit lauten Fingern an die Scheibe, sie schüttelten, erst zaghaft, dann immer wütender das enge Behältnis. Sein schillernder Flügelstaub wirbelte vom Grund des Glases auf und die Menschen freuten sich und hatten ihn so lieb. Als er sich legte, gab er den Blick frei auf seine bleiche tote Gestalt.
Im Frühling, wenn die lichtgrünen Blätter sich entrollen, die seidenweißen Blüten mit den Wölkchen verschwimmen, klettert Ameline in das Geäst des alten Kirschbaumes. Dann vergisst sie, daß sie ein Mädchen ist, das schon zur Schule geht und Hausaufgaben machen muss. Blau wie Vergissmeinnicht sind ihre Augen, in ihnen spiegelt sich der Himmel. Sicher liegt sie in den Ästen und verwandelt sich:
in ein Kaninchen, ein kleines, weiches, beigefarbenes Kaninchen, das sich in die Arme eines Mädchens schmiegt. Das Mädchen ist ein zartes Kind, ihre feinen Hände warm und Ameline weiß, ihr kann nichts geschehen. Sie seufzt und verwandelt sich:
in ein Hündchen, ein rotes zottiges Hündchen mit einer Lakritznase, durch die es alles schnuppern kann, ohne in den Kühlschrank zu sehen, was es trotzdem tut, aber nur, um sicher zu sein, daß es auch alles geschnuppert hat. Neben ihm sitzt ein kleines Mädchen, es flüstert, daß der Pudding im Keller versteckt ist, in einem Extra-Pudding-Kühlschrank. Ameline, die nun ein kleines, rotes, zottiges Hündchen ist, rollt sich vor Vergnügen auf dem Rücken hin und her und verwandelt sich:
in ein Pferd, ein schokoladenfarbenes Pferd mit einer goldenen Mähne, die im Wind flattert, während es mit glänzenden Augen die frische Frühlingsluft schnobert. Da kommen die ersten Störche geflogen, während sie im Landeanflug sind, hängen ihre langen Beine wie rote Drähte herab. Sie klappern sich eins und staksen durch die Wiese voller Vergissmeinnicht. Ameline, die nun ein beigefarbenes Kaninchen, ein kleiner zottiger roter Hund, ein schokoladenbraunes Pferd mit goldener Mähne ist, stellt sich vor, wie es wäre, wenn sie ein Blümchen sei:
ein Vergissmeinnicht in hellem Blau wie der Himmel über ihr. Sie würde wispern mit den Bienen und Käfern und sogleich sich wieder aufrichten, wenn die sperrigen Füße der Störche sie umgetreten haben. Am Abend, wenn die Sonne mit rotglühenden Strahlen die Dämmerung herbeiwinkt, würden die zarten Blütenköpfchen sich drehen und den alten Kirschbaum erblicken:
Dort in den Ästen liegt träumend ein kleines Mädchen.
In vibrierender Stille sitzen sie wie aufgespannt im Museum für Landschaftsandenkenbewahrung. Es ist die Premiere des letzten lebenden Bildes. Eine Landschaft in Schottland.
Niemand konnte sagen, warum es hatte so kommen müssen, aber sie war vorbei, die Zeit der Höhlenmaler, der Hieroglyphen, der handgeschriebenen Briefe, der handgemalten Erinnerungsbilder, der mühsam aufgebauten Kameras, der Erinnerungen im Kopf. Die Menschen ahnten, daß ihr Bestreben, jede Minute aufzunehmen, zu dokumentieren, ihrer Angst entsprang, es könnte wie ein Kurzschluss bald alles vorbei sein. So entwickelten sie in schlaffen Körpern unstillbaren Appetit, ihre Blicke, die emsig wie Leuchtturmlicht um sich selbst kreisten, zu bannen auf winzige Plättchen, für den Tag des Ansehens, irgendwann. Gierig und gieriger fraßen sie das Leben, die Schönheiten und Schrecklichkeiten ihrer Welt in die metallenen Mägen ihrer Supercomputer und nichts, nicht einmal die lichteste Wolke, der höchste Berg und das tiefste Meer entging ihrem Hunger. Alle Momente verschluckten sie, ohne zu kauen und da es nun so viele Menschen wie Lichtpünktchen auf dem Planeten gab, Zeit nur noch im Museum zu betrachten war, die Bilder nicht nachwachsen konnten in Lichtgeschwindigkeit, gab es bald keine mehr. Es gab keine pulsierenden Bilder mehr. Die Landschaften waren bis auf die letzten Fasern ausgefressen wie Pullover von Motten. Ein nie gesehenes Weiss breitete sich aus. Es wurde grell und unerträglich für die Augen. Die Regierungen aller Länder ordneten globale Fotoverbote an, doch es war zu spät. WEISS überzog den Planeten wie eine Eiszeit unbekannten Ausmaßes.
Die Menschen hatten sich schnell an das neue, alles nivellierende WEISS gewöhnt, und doch, sie hatten die Bilder in ihren flachen Taschenbegleitern, die sie zur Erinnerung zwangen und ein Unglück erfasste sie, ein nicht zu heilendes Unglück. Sie sehnten sich nach echten Landschaften, mit Pflanzen und Tieren und Düften. Es wurde eine hohe Belohnung ausgesetzt, um ein solches echtes Bild zu finden. Und sie fanden es. In Schottland lebte noch eines, auf einem winzigen grünen Flecken, mit einem alten Baum und einigen Schafen drumrum. Auf den Ästen saßen zwitschernde Vögel und am Stamm des mächtigen alten Baumes küsste sich heimlich ein Paar. Der Minister des Ministeriums für Landschaftsjäger ordnete den sofortigen grenzüberschreitenden Schutz des letzten lebenden Bildes an. Die Fördermittel aller Länder vereinigten sich, um es hocheilig unbeschädigt ins Museum für Landschaftsandenkenbewahrung zu überführen. Dort würde es unter Staatsschutz für einen hohen Eintrittspreis zu sehen sein. Unter keinen Umständen durfte es fotografiert werden, denn dann wäre auch das letzte der lebenden Bilder für immer und unwiederbringlich verloren.
Gebannt beobachten die auserwählten Zuschauer die Szenerie, sie genießen es so sehr, diesen atmenden Moment zu betrachten, begreifen ihn auf bisher unbekannte Weise. Und sie belauern einander, wissen sie doch nun um die Kostbarkeit. Sollte einer es wagen, seinen Supercomputer aus der Tasche zu ziehen um es auf- und damit wegzunehmen, sie würden ihn an den diesen letzten Baum hängen. Doch niemand wagt es.
Das Paar unter dem Baum küsst und umarmt sich, dann laufen sie zum Bild hinaus. Plötzlich stürzt die junge Frau ins Bild zurück. Greift ihre Handtasche, die noch in der Wiese liegt und tief hinein, zieht ihren formschönen superkleinen Supercomputer heraus, mit kussgeschminkten Lippen lächelt sie verklärt, entnimmt diesen berauschenden Moment in ihre Kamera … zur ewigen Erinnerung.
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